Verlag und Bibelstudien-Vereinigung e. V.

Barmherzigkeit ist besser als Opfer

Lesedauer: 11 Minuten

„Siehe, wie fein und wie lieblich ist’s, wenn Brüder einträchtig besammen wohnen!” – Psalm 133:1

Als Joseph erkannte, daß seine Brüder sich verändert hatten, hatte er Mitgefühl mit ihnen. Als er sah, daß ihre Herzen in seinem eigenen Fall sich vom Schlechten abwandten und die göttliche Mißbilligung wahrnahmen, und es ihnen leidtat, da empfand er Mitleid für sie. Als er ihr Interesse für seinen alten Vater bemerkte und ihren Unwillen seinen Tod durch eine unfreundliche Handlung oder ein Wort zu beschleunigen, da war er voller Mitleid. Er wünschte jedoch, daß die Preisgabe seiner Identität, wer er in Wirklichkeit war, nicht vor den Ägyptern geschehen sollte. Als er merkte, daß ihn die Gefühle überwältigten wollten, gab er schnell den Befehl, daß alle Ägypter den Raum verlassen sollten. Dann gab er sich seinen Brüdern zu erkennen und sagte: „Ich bin Joseph, euer Bruder, den ihr nach Ägypten verkauft habt.”

Wir können uns die Bestürzung der Brüder gut vorstellen. Es schien ihnen, daß ihre Trübsale und Schwierigkeiten sich vervielfältigten, und sie erkannten, daß irgendjemand, oder anders gesagt, Joseph mit all ihren Drangsalen in einem Zusammenhang stehen mußte. Als er nun ohne einen Übersetzer in ihrer eigenen Sprache zu ihnen sprach und ihnen offenbarte, daß er Joseph sei, wie müssen sie sich da gefühlt haben, und wie erstaunt müssen sie gewesen sein.

Aber Joseph beeilte sich voller Mitleid und Mitgefühl ihre Ängste zu zerstreuen. Er bedrohte sie nicht und stellte ihnen auch keine Strafe für ihre Boshaftigkeit in Aussicht. Er schimpfte noch nicht einmal mit ihnen wegen ihrer Missetaten. Stattdessen erkannte Joseph an, daß die Sünde ihnen schon eine Strafe gebracht hatte, und er tröstete sie mit den Worten: „Und nun seid nicht bekümmert und werdet nicht zornig (auf euch selbst), daß ihr mich hierher verkauft habt! Denn zur Erhaltung des Lebens hat Gott mich vor euch hergesandt … um euch einen Überrest zu setzen auf Erden und euch am Leben zu erhalten für eine große Errettung. Und nun, nicht ihr habt mich hierher gesandt, sondern Gott.” – 1. Mose 45:5 – 8

Was für eine wundersame Vergeltung! Joseph vergab seinen Brüdern und drückte sein Mitgefühl für sie aus, ohne daß sie ihn darum gebeten hätten. Wie viele Christen hätten unter ähnlichen Voraussetzungen so edel gehandelt? Und doch haben Christen in jeder Weise einen großen Vorteil gegenüber Joseph, der darin besteht, daß sie vom Heiligen Geist gezeugt worden sind und die Anweisungen der Schriften besitzen. Wie wundervoll Joseph im Vorbild Christus und seinen Geist darstellt. Wie offensichtlich unsere Glaubensbekenntnisse des dunklen Mittelalters uns fehlgeleitet haben, als sie uns lehrten, zu glauben, daß alle Juden, die Geschwister Christi, ewig gequält würden, weil sie Jesus, anstatt ihn anzunehmen und seine Jünger zu werden, gekreuzigt hatten.

Heute, unter dem besseren Licht, das in der Bibel von einer zur anderen Seite scheint, erkennt das Volk Gottes, daß anstatt daß der Messias eine ewige Qual für die Juden im Sinn hat, er das Gegenteil beabsichtigt – daß sie göttliche Barmherzigkeit und Vergebung erlangen sollen. Diese Barmherzigkeit wird ihnen in Kürze zuteil werden, nachdem das Messianische Königreich aufgerichtet sein wird, wie Paulus in Römer 11:25 – 33 feststellt: „Sie werden Barmherzigkeit erlangen durch eure Barmherzigkeit.” Der gleiche Gedanke wird durch den Propheten ausgedrückt, wenn er über Israel sagt: „Sie werden auf mich blicken, den sie durchbohrt haben, und werden über ihn wehklagen … .” – Sacharja 12:10

Es wird ein Wehklagen wahren Leidtragens sein, wenn sie die große Schuld erkennen werden, die sie sich vor mehr als zwanzig Jahrhunderten aufgeladen haben. Aber anstatt daß Er sie mit ewiger Qual bestraft, wird der Herr ihnen gegenüber gnädig sein, wie Er auch sagt: „Ich werde über sie den Geist der Gnade und des Gebets ausgießen.” Wie wunderbar und wieviel mehr dies in Harmonie mit unserer vorbildlichen Lektion von heute ist. Josephs zehn Brüder stellen anscheinend Israel bildlich dar, wie auch die Ägypter die Nationen vorschatten und wie Benjamin die Große Schar Klasse und Joseph selbst die Messianische Klasse vorbildlich darstellen, die Auserwählten, von denen Jesus das Haupt ist, und die überwindende Kirche die Glieder seines Leibes sind.

„Tröstet Jerusalem”

Der Bericht der Bibel ist überall mit sich selbst und mit dem göttlichen Charakter in Übereinstimmung. Die Schwierigkeit ist entstanden, als auf die Glaubensbekenntnisse der dunklen Zeitalter geachtet wurde. Die Bibel sagt tatsächlich, daß niemand ein Glied des geistigen Israel werden kann, es sei denn, daß er an Jesus als den Sohn Gottes glaubt und sich ihm anschließt in der Selbstverleugnung und den Leiden der gegenwärtigen Zeit, damit er die Miterbschaft im kommenden Königreich erlangt. Es war ein Fehler, daß man der einfachen Botschaft etwas hinzufügte und der Welt, einschließlich den Juden, erzählte, daß die ewige Qual das Schicksal aller anderen ist.

Ganz im Gegenteil erkennen wir jetzt, daß das, was das geistige Israel erlangt, das Königreich ist, und daß das natürliche Israel und die Welt in dem Sinn jene höchste Herrlichkeit und Segnung zu erlangen verfehlt. Aber wir erkennen auch, daß es Gottes Ziel ist, für ein solches Königreich Vorsorge zu treffen, daß durch diese offensichtlich die benötigten Segnungen über alle Völker ausgegossen werden können.

Dies ist die allgemeine Lektion, die durch die völlige Vergebung gegenüber den Brüdern Josephs gelehrt wird. Die Versicherung, die ihnen gemacht wurde, daß sie nur den göttlichen Plan ausführten mit der Botschaft, die schließlich zu den Juden kommen wird; daß ihre Kreuzigung des Messias nur die Ausführung der göttlichen Absicht war, durch welche die Segnungen Gottes für alle Geschlechter der Erde möglicht gemacht wurden. Damit stimmen auch die Worte des Apostels Petrus zu Pfingsten überein, der sich an einige bereuende Juden wendend die Angelegenheit völlig erkärt, indem er sagt: „Ich weiß, daß ihr in Unwissenheit gehandelt habt, wie auch eure Obersten.” – Apostelgeschichte 3:17 Und Paulus sagt: „Denn wenn sie erkannt hätten, so würden sie wohl den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt haben.” – 1. Korinther 2:8

Gottes Einstellung gegenüber den Juden, Josephs Brüdern, wird in der Prophezeiung von Jesaja 40:1 – 2 klar dargestellt. Diese Prophezeiung weist besonders auf das Ende dieses Evangelium-Zeitalters hin. Wir glauben, daß es die bestimmte Botschaft für die Juden zur gegenwärtigen Zeit ist. Sie sagt nicht ein einziges Wort über ihre ewige Qual, sondern befindet sich im Gegenteil in völliger Übereinstimmung mit der Feststellung von Paulus, daß am Ende dieses Zeitalters Gottes Gunst zu den Juden zurückkehren wird, und sie durch das geistige Israel – den Messianischen Leib, von dem Jesus das Haupt ist, Gnade erlangen werden. Wir lesen: „Tröstet, tröstet mein Volk, sagt euer Gott. Redet zum Herzen Jerusalems, und ruft ihm zu, daß sein Frondienst vollendet, daß seine Schuld abgetragen ist! Denn es hat von der Hand des HERRN das Doppelte [den zweiten Teil] empfangen für all seine Sünden!”

Israel ist in der Tat verpflichtet worden, den Becher der Unehre und Schmach und Leiden während fast zwanzig Jahrhunderten zu trinken, seit es unseren Erlöser den Römern zum Tode überliefert hat. Es tut uns leid, daß so viel dieser Leiden durch die Hände jener über sie gekommen ist, die fälschlicherweise behauptet haben, die Nachfolger Christi zu sein. Es tut uns auch leid, daß die Juden damit so viel Grund gehabt haben, den Geist Christi nicht zu verstehen. Sie können es nur verstehen, indem sie sich daran erinnern, daß es wahre und falsche Juden gibt, wie es auch wahre und falsche Christen gibt. „Wenn jemand den Geist Christi nicht hat, so ist er nicht sein.”

Joseph wurde lange Zeit mißverstanden

Die Brüder Josephs verfehlten es, ihren Bruder zu verstehen – so groß war der Unterschied zwischen ihrem Charakter und seinem Charakter. Selbst nachdem sie mitfühlender und weichherziger geworden waren, besaßen sie noch viel Bitterkeit des Geistes und der Anfeindung, daß, wenn sie an Josephs Stelle gewesen wären, sie jetzt oder später einige Strafen für ihn vorgesehen hätten. Sie wurden daher durch Josephs Worte brüderlicher Freundlichkeit und des Mitgefühls überrascht und konnten ihnen keinen Glauben schenken. Sie vermuteten, daß er um ihres Vaters Jakobs willen gnädig mit ihnen handelte.

So finden wir, daß Jahre später, als Jakob starb, diese zehn Brüder große Angst zeigten, daß Joseph nun seine Rache an ihnen vollziehen würde. Sie kamen wieder zu ihm und baten um eine Fortsetzung seiner Vergebung. Joseph aber sagte zu ihnen: „Fürchtet euch nicht! Bin ich etwa an Gottes Stelle? Ihr zwar, ihr hattet Böses gegen mich beabsichtigt; Gott (aber) hatte beabsichtigt, es zum Guten (zu wenden), damit er tue, wie es an diesem Tag ist, ein großes Volk am Leben zu erhalten. Und nun, fürchtet euch nicht! Ich werde euch und eure Kinder versorgen. So tröstete er sie und redete zu ihren Herzen.” – 1. Mose 50:19 – 21

Mose war von Gott gelehrt worden

Er lernte jedoch die Lektion, und es ist offensichtlich, daß Joseph von Gott gelehrt war. Er hegte keinen Rachegedanken gegen seine Brüder. Welche Strafe sie für ihre Sünde bekommen würden, würde nicht seine, sondern die Entscheidung Gottes sein. Und die Strafe erreichte sie ganz offenbar in Gestalt von geistigen Qualen, von Ängsten und Vorahnungen, die sie viele Jahre peinigten. Joseph hatte mit der Ausführung der göttlichen Anordnungen nichts zu tun, in denen die Gerechtigkeit immer Strafe für jede Bosheit in Aussicht stellt. Es lag an ihm, sich großzügig, liebevoll und freundlich zu zeigen, als eine Veranschaulichung des Handelns des großen Erlösers und seines Messianischen Königreichs.

Es war das Gleiche mit seinen eigenen Erfahrungen. Wir staunen, daß ein Mann mit so wenig günstigen Gelegenheiten solch ein Verständnis des Geistes der Wahrheit besaß, des Geistes Christi. Als vom Heiligen Geist Gezeugte, die das Beispiel der Worte Jesu und der Apostel haben und der Geschichte der vergangenen Zeitalter vor Augen haben, können wir noch zu den Füßen von Joseph sitzen und überrascht sein, wie umfassend er von Gott lernte und können ähnliche Lektionen auf uns selbst anwenden. Kein Murren, niemals ein einziges Wort der Klage gegen sein bitteres Los! Mit jedem Wort in allem legte er Zeugnis über Gottes Güte, Weisheit, Liebe und Macht ab. Er erkannte, daß wenn nur ein einziger Wechsel oder eine einzige Änderung in den Erfahrungen, die über ihn gekommen waren, stattfinden würde, dies darauf hinausliefe, dem Plan als Ganzem Schaden zuzufügen, und er einige der benötigten Lektionen des Lebens zu lernen verfehlt hätte.

Wie sehr benötigen alle Nachfolger des Herrn Jesus bei all ihren Trübsalserfahrungen auf den Herrn zu schauen. Wie sehr benötigen wir alle Glauben an Gott zu haben und auszuüben – daß Er weiß, sieht und imstande und willig ist, alle Dinge zusammenwirken zu lassen zu unserem Guten, weil wir Ihn lieben, weil wir zu Seinem Zweck gerufen worden sind, weil wir danach trachten, unsere Berufung und Erwählung festzumachen durch die Entwicklung eines Charakters, der uns „fähig gemacht hat zum Anteil am Erbe der Heiligen im Licht”, zur Miterbschaft mit unserem Erlöser.

Jakob in Ägypten

Joseph plante, daß für die fünf noch folgenden Jahre der Hungersnot sein Vater Jakob und mit ihm die ganze Familie nach Ägypten kommen sollten. Er dachte dabei an das für ihre Zwecke sehr geeignete Gebiet von Gosen, das ein Grasland war. Pharao, der Joseph von Herzen verbunden und erfreut über das Gedeihen seiner Angelegenheiten unter der Hand Josephs war, zeigte seine völlige Unterstützung, indem er veranlaßte, daß Ägyptische Wagen dem alten Mann Jakob und seinen Frauen und Kindern entgegengesandt werden sollten, so daß sie nicht unter großen Mühen auf Kamelen und Eseln reiten mußten. Joseph bereitete alles für die Reise vor und sandte als Ausdruck seiner Liebe kleine Geschenke voraus. Und er richtete eine besondere Botschaft an seinen Vater: „Und berichtet meinem Vater alle meine Herrlichkeit in Ägypten und alles, was ihr gesehen habt; und eilt und bringt meinen Vater hier herab!“ Und herzlich küßte er alle seine Brüder und weinte an ihnen und sagte zu seinen Brüdern:

„Ereifert euch nicht auf dem Weg”

Offensichtlich war Joseph ein genauer Beobachter der menschlichen Natur. Viele würden gedacht haben, daß es unnötig wäre, die Brüder hinsichtlich der unter allen Umständen zu erwartenden Streitgespräche im Voraus zu warnen. Viele würden gesagt haben: „Sie werden über die Segnungen Gottes bei dem Ausgang ihrer Erfahrungen so voller Freude sein, daß die Liebe bei ihnen überwiegen wird und kein Streit.” Oft trifft das Gegenteil zu. Wenn sich Erfolg einstellt, gibt es Gelegenheiten über den Gewinn zu murren, mehr oder weniger Neid oder Selbstsucht zu offenbaren.

Unter früheren Bedingungen wären die Brüder auf Benjamin eifersüchtig gewesen, wegen der größeren Aufmerksamkeit, die Joseph diesem erwies, und wegen der dreihundert Silberstücke, die ihm als Geschenk gegeben wurden. Sie mögen darüber gemurrt haben, wieviel Freiheit sie im Land Gosen haben würden. Sie mögen vermutet haben, daß sie unter die Hand Josephs kommen würden, und daß er Benjamin vorziehen würde, usw. Offensichtlich war Josephs Warnung zeitgemäß: „Ereifert euch nicht auf dem Weg.”

Wir haben von Vorfällen gehört, die unter des Herrn Volk so ähnlich verliefen. Wenn ihre Herzen in Trübsalen zum Herrn schrien, und sie sich bei allem Wohlergehen veranlaßt sahen, untereinander Mißgunst zu offenbaren und neidisch und eifersüchtig auf die günstigen Gelegenheiten, Segnungen und Vorrechte der anderen zu sein. Was für ein großer Fehler! Ein jeder sollte sich daran erinnern, daß des Meisters Augen auf seinen Fortschritt in der Christusähnlichkeit gerichtet ist. Jeder sollte sich daran erinnern, daß brüderliche Liebe eine der Prüfungen des Charakters ist.

Es bewahrheitet sich umso mehr, weil Geschwister in Christo manchmal mehr Ärger machen, als alle anderen. Die große Nähe unserer Gemeinschaft, das vertraute Wissen über einen jeden anderen gibt einem jeden von uns Gelegenheiten zur Kritik und übler Nachrede, die aus Respekt gegenüber Fremden nicht geäußert würden. Ist es nicht so, daß alle, die zu Gottes Volk gehören, die Worte Josephs verinnerlichen sollten: „Ereifert euch nicht miteinander auf dem Weg.” Es betrifft den Weg, der für uns vom Herrn geplant ist. Es ist der schmale und der schwierige Weg, der voller Anfeindungen gegenüber dem Fleisch ist und Trübsalen und Prüfungen gegenüber dem Geist. Anteilmäßig sollten dort Liebe und Mitgefühl, Zusammenarbeit und Hilfe vorhanden sein. Die Worte, die der Psalmist in unserem Leittext in dieser Lektion anwendet, waren offensichtlich hinsichtlich der Kirche, der Geschwister des Herrn, prophetisch gemeint: „Siehe, wie fein und wie lieblich ist’s, wenn Brüder einträchtig beieinander wohnen.”

Der Psalmist fährt fort diese Einheit der Geschwister, der Kirche, mit dem kostbaren Öl zu vergleichen, das über das Haupt des Königs oder des Hohenpriesters bei ihrer Einsetzung in ihr Amt ausgegossen wurde. Die Bedeutung dieser Illustration bestand offenbar darin, daß das Salböl den Heiligen Geist darstellte, und indem das Salböl über den Bart des Hohenpriesters bis zum Saum seiner Kleider hinabrann, salbte es den ganzen Leib des Priesters. Dieser Priester stellt Melchisedek dar, den königlichen Priester – Jesus als das Haupt und die Kirche als seinen Leib. Während dieses Evangelium-Zeitalters hat die Salbung durch den Heiligen Geist, welche zu Pfingsten über die Kirche, den Leib Christi, kam, fortbestanden und gibt eine Salbung oder ein Salben für alle seine treuen Glieder. Und durch diese Salbung können diese Glieder als eins mit Christus erkannt werden. „Denn in einem Geist sind wir alle zu einem Leib getauft worden.” -1. Korinther 12:13