„Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder.” – Markus 2:17
Die Bezeichnung „Zöllner” wurde in den Tagen Jesu auf Juden angewandt, die der römischen Herrschaft als Zolleinnehmer in Palästina dienten. Die Bezeichnung war vorwurfsvoll, weil die Juden an der Abrahamischen Verheißung festhielten, daß die ganze Welt von ihnen, als dem besonderen Volk Gottes, gesegnet werden sollten. Sie hielten daran fest, daß dies bedeute, daß sie nicht nur von aller anderen Herrschaft frei sein sollten, sondern daß sie auch die Meister der Welt sein sollten. Und wenn dies zutreffend ist, so sollten alle anderen Nationen ihnen Tribut zahlen, sie jedoch keiner. Die am meisten staatsbürgerlich gesinnten Juden lehnten es daher ab, auf diese Weise Agenten der römischen Herrschaft zu sein, indem sie Tribute oder Steuern für diese eintrieben, und so wurde auf die Tributeinnehmer oder Zöllner mit Verachtung herabgeblickt, als solche, die sich gegenüber ihrer Religion und ihrer Nation als untreu erwiesen.
Die Bezeichnung „Sünder”, die öfters in diesem Bibelbuch und auch woanders in den Evangelien benutzt wird, wurde auf alle Juden angewandt, die sich gegenüber der Orthodoxie ihrer Tage sorglos zeigten, denn die orthodoxen Juden jener Zeit und auch heute waren stolz auf ihre Religion und rühmten sich ihrer Heiligkeit – wie zum Beispiel das Wort „Pharisäer” „heilige Person” bedeutet – einer, der das kleinste Details des Gesetzes mit gewissenhafter Sorgfalt beachtet. Es bestand ein tiefer Graben zwischen diesen eifrigen Nachfolgern des Mosaischen Gesetzes und der Masse der Nation, die, weil sie nicht besondere Bekenntnisse zeigten, alle zusammen als „Sünder” oder Personen eingestuft wurden, die in ihrer Sorglosigkeit gegenüber Formen und Zeremonien usw. nicht der Norm der Orthodoxen entsprachen.
Die Pharisäer hätten die Sadduzäer toleriert und mit ihnen gegessen, obwohl diese praktisch Ungläubige waren, weil diese einer reicheren und ehrenwerteren Klasse angehörten, aber sie lehnten dies gegenüber ihren weniger geachteten Brüdern völlig ab, und würden mit ihnen, die sie im allgemeinen trotz ihrer wahrhaft moralischen Haltung als „Sünder” bezeichneten, nicht gegessen haben.
Die Jünger unseres Herrn waren fast alle aus dieser niedrigen oder weniger orthodoxen und weniger gebildeten Klasse der Juden ausgewählt worden. Wegen der Talente, die unser Herr besaß, wären die Pharisäer froh gewesen, ihn zu ihrer Zahl zu zählen, natürlich vorausgesetzt, daß er ihnen zur Seite stehen und sie bei ihren mehr oder weniger heuchlerischen Anmaßungen der Vollkommenheit und Heiligkeit unterstützen würde. Aber Jesus bezeichnete den Anspruch der Pharisäer als heuchlerisch und machte dem einfachen Volk klar, daß „keiner gerecht wäre, auch nicht einer” – daß alle die göttliche Barmherzigkeit benötigten, und daß in Wirklichkeit vielmehr die Demütigen und Bereuenden vor Gott annehmbar wären, als die Prahlerischen und Stolzen und Arroganten.
Matthäus der Zöllner
Unsere Betrachtung spricht von der Berufung des Matthäus, der einer der zwölf Apostel wurde. Sein ursprünglicher Name war Levi, so wie der ursprüngliche Name von Petrus Simon war. Er gehörte zu dem Stamm Levi, aber die Annahme eines Dienstes unter den Römern als Steuereinnehmer setzte ihn gesellschaftlich so herab, daß man ihn als „Zöllner” bezeichnete. Vielleicht hat die Qualität der Unabhängigkeit und die der Niedriggesinntheit, die diesen Menschen beeinflußt hat, ein Steuereinnehmer zu werden und die Verachtung seiner Mitmenschen zu ertragen, Werte hervorgerufen, die ihn in Bezug auf die göttliche Einladung, ein Jünger Jesu zu werden, begünstigten. Wir können sicher sein, daß sich dies bewahrheitete, wenn wir von der Tatsache ausgehen, daß Jesus ihm eine besondere Einladung gab, sein Jünger zu werden und von der Tatsache, daß er in der Herzensstellung war, alle seine irdischen Güter aufzugeben, um ein Glied der Messianischen Klasse zu werden. Wir können nicht annehmen, daß der Meister irgendjemanden zur Jüngerschaft berufen würde, außer einen edlen Charakter, und wir können auch nicht annehmen, daß irgendwelche andere auf den Ruf des Meisters geantwortet hätten, wie es bei Matthäus zutraf.
Matthäus besaß ein Haus, und er lud Jesus und seine Nachfolger zu einem Mahl in sein Haus ein. Es waren auch einige seiner Freunde eingeladen, die wie er selbst zu dieser ausgestoßenen Klasse gehörten – Zöllner und Sünder. Die Schriftgelehrten und Pharisäer beobachteten Jesus genau, und als sie wahrnahmen, daß er aß und sich unter die wenig respektierten und weniger orthodoxen Menschen mischte und Umgang mit ihnen hatte, verachteten sie ihn und stellten den Jüngern Jesu die direkte Frage: „Warum ißt euer Lehrer mit den Zöllnern und Sündern und beansprucht trotzdem heilig zu sein.”
Dies gab Jesus die gewünschte Gelegenheit mit wenigen Worten eine große Lehre zu erteilen, indem er ihnen antwortete: „Nicht die Starken brauchen einen Arzt, sondern die Kranken. Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder.” Hier haben wir den Schlüssel zu vielem Mißverständnis der Evangelien in jenen Tagen – und auch noch heute. Die erste Lektion, die alle lernen müssen, ist die, daß alle Sünde von Gott verurteilt wird, die kleinen Sünden und die großen – und daß alle Ungerechtigkeit Sünde ist, und daß „keiner gerecht ist, auch nicht einer”.
Mit anderen Worten gesagt muß ein jeder lernen, daß er selbst ein Sünder ist, der unter dem göttlichen Urteil steht und Vergebung benötigt, bevor er zur Gemeinschaft mit Gott kommen oder Teilhaber der Vorsorge Gottes auf ewiges Leben werden kann. Die Zöllner und Sünder waren tatsächlich von Gott verurteilt, und die Schriftgelehrten und Pharisäer, Glieder des gleichen unvollkommenen Geschlechts, standen ebenso unter der göttlichen Verurteilung, aber sie wollten ihre Sündhaftigkeit und ihre Unvollkommenheit nicht eingestehen noch die göttliche Vergebung suchen, und weil die anderen sich ihrer Sünde bewußt waren, waren diese eher bereit, Vergebung zu suchen und anzunehmen. Jesus illustrierte dies in einem seiner Gleichnisse, in welchem er sagte: Ein gewisser Pharisäer ging zum Tempel um zu beten, und voller Selbstzufriedenheit dankte er Gott, daß er nicht wie andere Menschen sei, noch wie der arme Zöllner neben ihm. Der Zöllner betete auch, aber in Demut, indem er fühlte, daß er ein Sünder war, der die göttliche Vergebung zu erlangen suchte. Jesus stellte fest, daß der weniger moralische Mensch, der weniger gewissenhaft besorgte Zöllner, der göttlichen Gerechtigkeit näher war, als der sorgfältigere und ehrenwertere orthodoxe Pharisäer, weil der Letztere es verfehlte, seine Sünden und Unvolkommenheiten einzugestehen, die nur bei einem Eingeständnis vergeben werden konnten. Darum sagte Jesus: „Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder.” Es gab keinen Gerechten zu rufen, denn alle sind Sünder, und diejenigen, die sich für gerecht hielten, hatten ein Hindernis vor sich, daß sie davon abhielt, unter dem Ruf dieses Zeitalters zum Herrn zu kommen.
„Deine Jünger fasten nicht”
Zu jener Zeit wurde auch die Fastenzeit von den Pharisäern beachtet und auch von denen, die die Lehren von Johannes dem Täufer angenommen hatten, aber Jesus hatte bis zu dieser Zeit zu seinen Jüngern nichts über Fasten gesagt. Nun wurde die Frage nach dem „Warum” gestellt. Der Heiland erklärte, daß die Zeit, während er bei ihnen war, eher und richtigerweise als eine Zeit der Freude betrachtet werden sollte und nicht als eine Zeit des Fastens und der Trauer. Würde eine Verlobte trauern und weinen und fasten, während ihr Verlobter anwesend ist? Nein! Jedoch in nachfolgenden Tagen, nach seinem Weggang in ihrer Einsamkeit und besonders, wenn sie über die lange Verzögerung seines Kommens nachdachte, sie als seine Gemahlin zu empfangen, würde sie traurig sein. Damit deutete Jesus an, daß es auch so mit seinen Fußstapfennachfolgern sein würde. Sie würden, nachdem er weggegangen wäre, und während sie auf seine Wiederkehr warteten, viele Gelegenheiten haben, zu weinen und zu fasten.
Fasten sollte nicht als eine Pflicht oder ein Befehl aufgefaßt werden, sondern vielmehr als ein freiwilliges Opfer gegenwärtiger und zeitlich guter Dinge, so daß Herz und Sinn desto mehr ernstlich nach den Dingen, die man noch nicht sieht, aber erhofft, trachten mögen. So hat Gottes Volk neunzehn Jahrhunderte lang gefastet und gebetet und gewartet und sich nach der Wiederkehr des Bräutigams gesehnt. Aber zur Zeit seiner Gegenwart, ihrer Gemeinschaft mit ihm, ihrer Freude bei der Wahrnehmung der vollkommenen Verheißungen, sollten ihre Tränen weggewischt werden, um „ihnen Kopfschmuck statt Asche zu geben, Freudenöl statt Trauer … ein Ruhmesgewand statt eines verzagten Geistes.”
Die Kirche ist eine Neue Schöpfung
Es war für die Zuhörer des Erlösers schwierig, den eigentlichen Kern seiner Lehren zu erfassen. Sie konnten die Predigten von Johannes dem Täufer verstehen, der zur Buße und Erneuerung aufrief; aber als Jesus erklärte, „Das Gesetz und die Propheten (gehen) bis auf Johannes; von da an wird die gute Botschaft vom Reich Gottes verkündigt”, war dies eine so fundamentale Aussage, daß es für die Massen schwierig wurde, diese zu begreifen. Was konnte höher angesehen werden als das Gesetz und die Propheten? Welches Tor hätte für die Nachfolger Jesu geöffnet werden können, das nicht schon ihren Vorvätern geöffnet worden war? War nicht ihre jüdische Nation Gottes Königreich? Saß König David nicht „auf dem Thron des Herrn”? War nicht verheißen worden, daß der Messias auf dem Thron Davids sitzen sollte?
Verständnisvoll müssen wir zugestehen, daß es für die Juden schwierig war, zu verstehen, daß bevor die Segnungen zu dem natürlichen Israel kommen konnten, ein anderes, geistiges Israel, ausgewählt werden mußte. Zur Betonung dieses Gedankens gab der Herr zwei gleichnishafte Illustrationen und sagte: Niemand näht einen Flicken von neuem Tuch auf ein altes Gewand, denn durch die Schrumpfung des neuen Flickens würde das alte Kleid weiter beschädigt werden und der Schaden zunehmen. Ebenso würde kein Mensch daran denken, neuen Wein, dessen Gärungsprozeß noch nicht abgeschlossen ist, in alte Weinschläuche abzufüllen, deren Dehnfähigkeit eingeschränkt ist, und weil die alten Weinschläuche durch die Gärung des neuen Weins bersten würden.
Diese Illustrationen zeigen, daß die Lehren des Evangeliums nicht als ein Flicken auf dem Jüdischen Gesetz zu betrachten sind, sondern als eine neue Lehre. Und der neue Wein der Evangeliumszeit muß in neue Weinschläuche abgefüllt werden, die imstande sind, dem Streß der Gärung, die sicher kommen würde, standzuhalten. Damit versuchte unser Herr nicht die Lehren, die den Juden gegeben waren, zu entkräften, sondern er berief aus dem Judaismus eine besondere Klasse, welche die Schriften als „Neue Schöpfungen in Christo” bezeichnen. Diesen ist der neue Wein der Evangeliumsbotschaft übergeben worden, und diese müssen die Erfahrungen mit dem Gärungsprozeß machen, der die Vorbereitung auf das Königreich begleitet, – mit Trübsalen, Züchtigungen und Prüfungen.