Verlag und Bibelstudien-Vereinigung e. V.

Über die Vergebung

Lesedauer: 6 Minuten

„Denn wenn ihr den Menschen ihre Vergehungen vergebet, so wird euer himmlischer Vater auch euch vergeben.” – Matthäus 6:18

Die Frage von Apostel Petrus: „Herr, wie oft soll ich meinem Bruder, der wider mich sündigt, vergeben? Bis siebenmal?”, taucht häufig auf. Höchstwahrscheinlich stellt sie sich allen Nachfolgern des Herrn irgendwann und irgendwie. Selbst unvollkommen und umgeben von anderen, die auch unvollkommen sind, müssen wir beständig Barmherzigkeit, Nachsicht, Vergebung üben. Das Bewußtsein des Menschen strebt natürlicherweise nach Gerechtigkeit und registriert genau jede gegen uns gerichtete Ungerechtigkeit. Man kann auch beobachten, daß viele Menschen Genugtuung empfinden, die Gerechtigkeit herauszustreichen gegenüber einem Gesetzesbrecher. Volksmassen zeigen diese Haltung. Männer, Frauen und Kinder steigern sich, sozusagen als Vertreter der Gerechtigkeit, in Fanatismus und in verbale Ausfälle hinein, wenn es um einen schuldigen armen Schlucker geht, der vermeintlich dem Zugriff des Gesetzes und seiner gerechten Strafe entgeht, und man möchte die Vergeltung in die eigenen Hände nehmen. Der Gedanke ist nicht fern, daß viele unter den Massen selbst Schuld auf sich geladen haben und annähernd die gleichen oder ebensolche Verbrechen begangen haben wie jene, die sie bei andern tadeln und bestrafen wollen. Es scheint fast so, daß das gefallene Fleisch die Neigung in sich trägt einander Gewalt anzutun oder Gewalttaten zu beobachten, wenn es durch das Gesetz nur nicht verboten wäre. Arme bedauernswerte Kreaturen! Was für eine falsche innere Einstellung und wie verwerflich von Gottes Standpunkt aus! Und doch beruhigen diejenigen, die auf diese falsche Art ihren Leidenschaften die Zügel schießen lassen, schließlich ihr Gewissen dadurch, daß sie schlußfolgern, daß sie die Angelegenheiten so betrachten wie Gott, Gerechtigkeit lieben und Unrecht hassen.

Gerechtigkeit ist, wie wir wissen, die Grundfeste von Gottes Regierung; Er ist gerecht. Doch es ist ebenso wahr, daß Er ein liebender und freundlicher Gott ist, und daß sich mit Liebe Seine Persönlichkeit umschreibt, denn „Gott ist Liebe”. In die Nähe der Gottähnlichkeit zu kommen heißt also, sich selbst und den eigenen Weg nach den Regeln der Liebe, des Mitgefühls, der Großzügigkeit und Vergebung zu beurteilen.

In der Antwort auf Petrus’ Frage sagte unser Herr, daß wir einem Bruder nicht nur siebenmal vergeben sollen, sondern siebenmal siebzigmal. Welches Maß an Großzügigkeit wird uns hier angeraten! Es erlaubt uns einen Blick in die Barmherzigkeit und liebende Nachsicht dessen, mit dem wir es zu tun haben. Dabei denken wir an eine andere Aussage zum gleichen Thema, aus der hervorgeht, daß die Vergebung, bevor sie gewährt wir, doch erst erwünscht, wenn nicht angestrebt wird: „Und wenn <dein Bruder> siebenmal des Tages an dir sündigt und siebenmal zu dir umkehrt und spricht: Ich bereue es, so sollst du ihm vergeben.” – Lukas 17:4 Wir müssen sogar annehmen, daß der Herr meinte, daß wir dem Bruder seine Verfehlungen schon im Herzen vergeben, auch wenn wir mit dem Aussprechen der Vergebung klugerweise warten, bis er den Wunsch danach zu erkennen gibt. Christi Nachfolger sollen ihre Bereitschaft zu verzeihen beständig aufrechterhalten und sich dessen bewußt sein, wie sie es von ihrem Himmlischen Vater kennen; sie sollen jederzeit damit rechnen Nachsicht zu üben und im rechten Moment diese Bereitschaft zeigen.

Um den Gedanken noch weiter klarzustellen, gebrauchte der Herr ein Gleichnis und sagte: „Deswegen ist das Reich der Himmel einem Könige gleich geworden, der mit seinen Knechten abrechnen wollte.” – Matthäus 6:23 Wir dürfen seine Aussage so verstehen, daß die Kirche in der Jetztzeit ein im Entstehen begriffenes Königreich ist und wie der Herr mit ihr umgeht, nämlich so wie es die Illustration des Gleichnisses zeigt. Es ist daher nicht als bildliche Darstellung von Gottes Handeln mit der Welt zu verstehen. Er handelt mit der Welt überhaupt nicht. Er bezeichnet die Menschen der Welt nirgends als Seine Knechte in irgendeinem Wortsinn. Nur Gläubige, Geweihte haben diese bevorzugte Stellung, mit Gott in Beziehung zu stehen, inne, und auch nur sie sind in dem Gleichnis gemeint. Darüber hinaus wird die Kirche als auf der Stufe der Erbsünde befindlich betrachtet. Damit ist nicht gemeint, daß die Erbsünde aufgrund eines Gebets gestrichen wurde. Die Strafe für diese Sünde mußte getilgt werden, nicht durch das Gebet eines Sünders, sondern durch das kostbare Blut Christi. Aber als wir Vergebung unserer Sünden bekamen dadurch, daß wir uns von der Sünde abwandten und an Christus glaubten und durch die Weihung an den Herrn und die Zeugung durch den Heiligen Geist sind wir Seine Knechte. Auf diesen Personenkreis allein bezieht sich das Gleichnis.

Der dort als erster genannte Knecht war als Knecht Gottes in einer sehr schlechten Lage. Als Nachfolger Christi hatte er außerordentlich wenig aufzuweisen. Die Zeit der Abrechnung war da. Er war sich dessen bewußt und flehte um Gottes Gnade und Barmherzigkeit, indem er versprach, alles in seiner Macht stehende zu tun, um den Mangel auszugleichen. Und er wurde erhört und die Forderung an ihn wurde gelöscht. Doch als er wegging und auf einen Mitknecht traf, der ihm eine geringe Summe schuldete und dem gegenüber er sich unbarmherzig zeigte, war sein Herr sehr erbost über ihn und verkündete, daß er, der erste Schuldner, hart bestraft wird und keine Barmherzigkeit erfährt, weil er seinem Mitknecht gegenüber diese auch nicht bewiesen hat. Die Worte seines Herrn waren: „Solltest nicht auch du dich deines Mitknechtes erbarmt haben, wie auch ich mich deiner erbarmt habe?” Und er „überlieferte ihn den Peinigern, bis er alles bezahlt habe, was er ihm schuldig war”. Der geschuldete Betrag umfaßt nichts von der Strafe aufgrund der Erbsünde, sondern nur die Strafe für die Mängel des Übertreters hinsichtlich seiner Bundesbeziehung als Knecht, der vom Beginn seines Dienstverhältnisses an Schuldner war.

Der Herr schloß das Gleichnis mit den Worten: „Also wird auch mein himmlischer Vater euch tun, wenn ihr nicht ein jeder seinem Bruder von Herzen vergebet.” An anderer Stelle verleiht der Herr dem gleichen Gedanken mit etwas anderen Worten Nachdruck: „Denn wenn ihr den Menschen ihre Vergehungen vergebet, so wird euer himmlischer Vater auch euch vergeben.” – Matthäus 6:14

Zweck und Ziel dieses Handelns von seiten unseres Himmlischen Vaters scheint nicht allen klar zu sein. Nicht daß er Vergeltung üben wollte, nicht daß er zu uns sagen will: „Wenn ihr zu andern gemein seid, werde auch ich gemein zu euch sein.” Stattdessen ist dies die Lehre daraus:

„Ich bin freundlich zu den Undankbaren; ich habe außerordentlich Gnade walten lassen, indem ich eure Erbsünde vergeben habe und eure Weihung, da ihr meine Knechte seid und zu meiner Familie gehört, angenommen habe. Aber ich habe euch zu einem ganz bestimmten Zweck in diese Stellung berufen, und ihr werdet nicht geeignet, noch vorbereitet sein für diesen Dienst, den ich für euch vorgesehen habe, außer ihr lernt die Lektion der Vergebung und der Großmut. Daher erlasse ich um euretwillen die Vorschrift, daß ich euch und euren Unvollkommenheiten gegenüber nicht länger großzügig sein werde, es sei denn, ihr seid großzügig gegen eure Brüder und ihre Unvollkommenheiten. Ich ordne dies an, um euch eine wichtige Lehre zu erteilen, die ihr nur auf diesem Weg lernen könnt, und ich suche in euch als in meinen Knechten jene Vollkommenheit als Merkmal der Wesensgleichheit mit mir.

Euer Blick ist zu sehr auf die mir eigene Gerechtigkeit gerichtet, die ihr nachmachen wollt, und weshalb ihr streng mit denen umgeht, die eure Schuldner sind. Ich möchte euch klarmachen, daß meine erhabensten Wesenszüge im Gebrauch von Liebe und Mitgefühl, in Freundlichkeit und Nachsicht zum Ausdruck kommen. Da es mein Anliegen ist, daß ihr in dieser Wesensgleichheit Fortschritte macht und ihr so den Standard erreicht, in dem ich euch umfassender in meinem Dienst brauchen kann, deshalb lenke ich euch dahin, daß ihr einander verzeiht und miteinander gnädig umgeht, so wie ich euch gegenüber gnädig war. Und ich sage euch zu, auch weiterhin mit euch gnädig zu verfahren, wenn ihr euch um Übereinstimmung mit meinem Geist der Liebe bemüht und um euren Lauf in meinen Wegen. Ich zögere nicht, einem Liebevollen und Großmütigen zu verzeihen, der danach strebt, sich meine Wesenszüge anzueignen, und bin bereit, in größtmöglichem Umfang freundlich, großmütig und nachsichtig zu sein.“