Verlag und Bibelstudien-Vereinigung e. V.

Die Heimkehr des verlorenen Sohnes

Lesedauer: 9 Minuten

„Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen.” – Lukas 15:18

Nach den Gleichnissen vom verlorenen Schaf und von der verlorenen Drachme, einem Bild für Gottes allgemeines Handeln mit der Menschheitsfamilie, erzählte der Herr ein drittes Gleichnis als Versinnbildlichung für Gottes Handeln mit dem Volk Israel. Er wollte, daß seine Zuhörer nicht nur eine grobe Vorstellung von Gottes Güte und Aufmerksamkeit für die Wiederherstellung der Verlorenen haben, sondern hier ist eine Lehre enthalten, die den Gegenstand mit der Lebenswirklichkeit der Zuhörer, der Pharisäer und Zöllner, verknüpft und ihnen die Situation und jedem von ihnen die rechte Art zu handeln vorstellt.

Dabei ist festzuhalten, daß der Herr, der bekanntlich Sündern gegenüber gnädig war, die Sünde niemals duldete. Die Freundschaft zu den Zöllnern war nie erkauft, indem unser Herr eine Sache verfälscht und behauptet hat, sie seien keine Sünder; im Gegenteil: er bezeichnete sie als Sünder, zeigte ihnen sein Mitgefühl und seine Liebe und auch, daß ihr Fall, weit davon entfernt war hoffnungslos zu sein, wie die Pharisäer behaupteten, gerade aussichtsreich war, wenn sie nur bereuten und sich Gott zuwendeten. Den „Vater” in diesem Gleichnis stellt Jahwe Gott dar, und die „zwei Söhne” stehen für zwei Klassen in Israel, wobei der ältere Sohn Moses und die Propheten und alle, die „auf Moses Stuhl saßen”, als Vertreter des Gesetzes und auch alle, wie die Pharisäer, die ihr Leben dessen Anforderungen unterwarfen, darstellen. Der jüngere Sohn steht für den Teil des Volkes Israel, der zu Eigenwilligkeit und Nachlässigkeit dem Gesetz gegenüber neigte.

Diese beiden Klassen, also ganz Israel, waren beide Erben wunderbarer Segnungen und Verheißungen; die Segnungen waren zu gleichen Teilen unter ihnen aufgeteilt, doch die Verheißungen gehörten denen, die dem Willen des Vaters treu blieben. Der ältere Sohn stellt die Klasse dar, die die Verheißung wertschätzte und zu Hause beim Vater den Segen genoß, das heißt Gemeinschaft hatte mit Gott als Sein Volk. Der jüngere Sohn kümmerte sich nicht um die Verheißungen, nahm sich seinen Anteil am vorhandenen Segen, verließ Gott und lebte entfernt von Ihm in Sünde und Mißachtung des Gesetzes.

Letztere haben auf ihrem eigensinnigen Weg viele Freuden vorweggenommen; sie stellten aber wie alle Übertreter die altbekannte Tatsache fest, daß der Weg eines Übeltäters schwer ist. So unterschied sich der sündige Teil Israels nicht von irgendeiner anderen Gruppe von Sündern zu jeder beliebigen Zeit, die als Gesetzesbrecher lebten; es ist ein Leben in Entbehrung, in Hunger, ohne Erfüllung, in Unzufriedenheit, ein Leben im Joch der Sünde und mit dem Lohn der Sünde. Wir kennen es auch heute als ein unglückliches Leben in Trübsinn, Herzweh und Schmerzen. Das Gleichnis zeichnet diesen Sohn als jemand, der von seiner Situation gänzlich angeekelt ist und beschließt, ins Haus seines Vaters zurückzukehren, wobei er nicht erwartet, der Erbe großer Verheißungen zu sein, denn es war ihm bewußt, daß er das Recht darauf verwirkt hatte. Er hoffte nur auf das Sonderrecht, im Haus als Diener aufgenommen zu werden, nicht als Sohn.

So beschreibt der Herr die Einstellung von einigen der Zöllner und Sünder, die um ihn waren und seinen Worten lauschten und aufmerkten, wessen Lehren die Pharisäer falsch fanden. Unser Herr wollte, daß diese Reumütigen die Einschätzung des Himmlischen Vaters ihnen gegenüber erkannten, und im Gleichnis zeichnete er ihn so, daß er den bußfertigen verlorenen Sohn von weitem sah und Mitleid mit ihm hatte und alle Bereitschaft ihn aufzunehmen. Dies muß die Herzen der zuhörenden Zöllner sehr berührt haben: zu denken, daß Gott bereit war sie wieder anzunehmen, sie nicht abzuweisen, wie es die Pharisäer taten! Und der Herr fährt in seiner Darstellung fort und zeigt, daß der Vater den verlorenen Sohn nicht nur aufnahm, sondern ihn über alle Erwartungen hinaus als Sohn und nicht als Diener aufnahm, ihm ein neues Kleid der Gerechtigkeit gab und ein großes Willkommensfest für ihn machte.

Dann folgte das Bild von der Haltung der sich beklagenden Pharisäer: Der ältere Bruder wird im Gleichnis als enttäuscht gezeichnet anläßlich der Rückkehr des verschwenderischen Bruders. Damit offenbarte ihnen unser Herr, wie weit entfernt von der Einschätzung des Himmlischen Vaters ihre Herzensstellung war, und damit tadelte er sie. Im Gleichnis wird ihre Einstellung gezeigt, als sie es ablehnten, den verlorenen Sohn „Bruder” zu nennen und stattdessen „dieser dein Sohn” sagten, während im Gegensatz dazu der Standpunkt des Himmlischen Vaters mit den Worten ausgedrückt wird: „dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden”.

Die Pharisäer und andere aus dem jüdischen Volk, die sich bemühten das Gesetz zu halten und Gottes Geboten treu zu sein, hatten, was das betrifft, die richtige Einstellung und waren in diesem Punkt und bis zu dieser Zeit Erben alles dessen, was Gott zu geben und verheißen hatte. Wenn sie nicht nur nach außen religiös gewesen wären, sondern religiös auch im Herzen, dann wären sie bereit gewesen, aus den Händen des Herrn die herrlichen Segnungen der Vorrechte seines Reiches zu empfangen, die sie nun, in ihrer falschen Herzensstellung, verachteten, ablehnten und verloren. Diesen Verlust bildet das Gleichnis ab in der Weigerung, an dem durch den Vater ausgerichteten Fest teilzunehmen, bei dem sie genauso willkommen gewesen wären wie der heimgekehrte verlorene Sohn. Wenn sie in der rechten Herzensstellung gewesen wären, hätten sie erste Plätze mit dem Vater eingenommen und hätten ihrerseits den Heimkehrer willkommen geheißen. Weil sie aber gerade nicht die rechte Einstellung hatten, ihren reumütigen Bruder zu empfangen, hätten sie auch nicht die geeignete innere Haltung bewiesen, um als Werkzeuge des Herrn für die allgemeine Segnung in Seinem Reich zu dienen. Zur Miterbschaft in Seinem Reich sucht er nicht die Selbstgerechten, die andere verachten, sondern Menschen, die niedriggesinnt sind und die, weil sie die göttlichen Gnadengaben und Seine Gunst als unverdientes Geschenk empfangen, erfüllt sind mit Dankbarkeit. Diese besitzen den Geist der Demut und des gleichen Sinnes mit dem Vater und sind voll Freude mitarbeiten zu dürfen bei Seinen den Menschen wohlwollenden Vorhaben für die Wiederherstellung der Verlorenen.

Mit den beiden anderen Gleichnissen läßt sich in einem großen Thema die Verbindung herstellen, wenn wir in dem verlorenen Sohn außerdem die übrige Menschheit sehen, über jene wenigen in Israel hinaus, die sich bemühen den Willen des Vaters zu tun. Unter diesem Gesichtspunkt erkennen wir, daß das Fest von Fettspeisen, das für die Sünder in Israel bereitet ist, ein Pendant darstellt zu jenem Fest, das schließlich im Reich Gottes für die ganze Menschheit bereitet wird – Jesaja 25:6 -, damit alle ins Haus des Vaters zurückkehren, und daß alle diese Wiederkehrenden durch Christus von Gott aufgenommen werden, nicht als niedrige Knechte, sondern als Söhne.

Die beiden anderen Gleichnisse beziehen den menschlichen Willen zur Wiederherstellung der Verlorenen nicht ein; dieses Gleichnis aber stellt den menschlichen Willen in den Mittelpunkt. Der Wille des älteren Sohnes war es, der ihn damals im Haus des Vaters hielt; und der Wille des verlorenen Sohnes war es, der ihn hinausführte; er wollte die Tiefen der Erniedrigung erleben, woran ihn der Vater nicht hinderte. Genauso führte ihn sein Wille zur Umkehr und zur Rückkehr ins Haus seines Vaters, und es war auch der Wille, der den älteren Sohn daran hinderte, die Freuden des Festes zu genießen, mit denen das Gleichnis schließt.

Auch der Zweite Tod und die Klasse, die dort endgültig untergeht, kommt nicht im Gleichnis vor. Der verlorene und letztlich wiedergefundene Sohn war insofern verloren, als er fortging in die Sünde; er war nicht etwa an die ewige Qual verloren. Er wurde wiedergefunden, als er zu Gott zurückkam. In den Augen seines Vaters war er tot während seiner Abwesenheit, aber lebendig, als er bereit war zurückzukehren.

Die Lektion für die Pharisäer in diesem Gleichnis wie auch in den anderen bezog sich auf ihre eigenen Pflichten ihren Brüdern gegenüber, welche dadurch, daß sie Jesus aufnahmen, unter Beweis stellten, daß sie zu Gott zurückkehren wollten. Bekanntlich waren, soweit wir wissen, nur wenige, wenn überhaupt, von den Nachfolgern Jesu aus der Klasse der Religiösen jener Zeit, die den Anspruch erhoben, auf Moses Stuhl zu sitzen und in jedem Sinn des Wortes die bevorzugten Leute des Vaters dieses Bündnisvolkes waren. Daß die Pharisäer nicht groß von diesem Gleichnis profitierten, scheint offensichtlich; wenige Angehörige dieser Klasse waren geneigt, ihre hochgelobte und herausgehobene Stellung aufzugeben und anzuerkennen, daß sie in allem von der Gnade des Vaters abhingen, und daß sie nichts aus sich selbst tun konnten.

Einige Parallelen zu solchen Verhältnissen, die am Ende des jüdischen Zeitalters herrschten, lassen sich jetzt am Ende des Evangeliumszeitalters beobachten, wie es schon verschiedentlich zu bemerken war, daß besondere Dinge des jüdischen Volkes in ihrer Erntezeit ein Grundmuster oder ein Bild oder eine Darstellung für das Evangeliumszeitalter und das geistige Israel abgeben. Von den geistigen Israeliten geht heute zur Zeit der zweiten Gegenwart des Herrn eine Botschaft aus an die seufzende Schöpfung, eine Botschaft über die Liebe des Vaters und ihre Längen und Breiten, Höhen und Tiefen, eine Botschaft über das von unserem Herrn bereitgestellte Lösegeld, das ein „Lösegeld für alle” ist, und darüber, daß sein Tod „die Sühnung für unsere Sünden <ist>, nicht allein aber für die unseren, sondern auch für die ganze Welt” – 1. Johannes 2:2 -, eine Botschaft, daß die ganze durch Christi kostbares Blut erlöste Welt umfassend Gelegenheit hat, im Millennium in die Harmonie mit Gott zurückzukehren, „bis zu den Zeiten der Wiederherstellung aller Dinge, von welchen Gott durch den Mund seiner heiligen Propheten von jeher geredet hat.” – Apostelgeschichte 3:21

Wie nun wird diese Kunde von der nominellen Christenheit, die gewissermaßen den älteren Bruder des Gleichnisses vorstellt, aufgenommen? Scheint es nicht so, daß diese Botschaft der Wiederherstellung der „seufzenden Schöpfung” – Römer 8:22 – in der gleichen Art aufgenommen wurde, die von Gottes Gnade gegen den jüdischen verlorenen Sohn zeugt? Sollte man nicht meinen, daß viele unserer lieben Freunde, von denen wir erwartet hätten, daß sie sich freuen über die Handlungsweise des Himmlischen Vaters, der die umkehrwillige Welt gerne zurückerhält, die Kunde gerne annehmen? Er hat doch durch Jesus unfehlbar Vorkehrung getroffen für diese Rückkehr zur Gemeinschaft mit ihm und hat vorgesorgt, daß alle von Seiner Gnade in Christo erfahren. Sollte man nicht meinen, daß diese wunderbare Botschaft „guten Willens für alle Menschen”, diese „große Freude, die für das ganze Volk sein wird” – Lukas 2:10 – eine frohe Botschaft für alle Christen ist?

Ganz gewiß sollte sie es sein für alle, die den Geist des Vaters haben, für alle, die ihren Nächsten und sich selbst lieben. Aber wir wissen, wie unnachgiegbig die Botschaft von manchen abgelehnt wird, die dem äußeren Anschein nach lange vom Himmlischen Vater begünstigt waren und die sich bemüht haben, sich durch erkennbaren Gehorsam eng an die Gesetze der Gerechtigkeit zu halten. Was läßt sich aus ihrer Lebensführung in Bezug auf Seine Botschaft von der gegenwärtigen Wahrheit schließen? Bedeutet es nicht, daß sie nach außen hin Söhne Gottes waren, den Gesetzen der Gerechtigkeit gehorchten, in ihrem Innern aber weit entfernt von Ihm waren, selbst wenn sie sich mit ihren Lippen sehr zu Ihm bekannten und ihre Knie im Gebet vor Ihm beugten?

Wenn sie Gottes Geist der Liebe, der Freundlichkeit, der Großmut, der Gerechtigkeit und der Wahrheit hätten, dann, sollte man meinen, wären sie froh, ja sie würden jubilieren über die Aussicht, daß der Himmlische Vater einen genialen, herrlichen Plan zur Wiederherstellung für die Menschheit hat, nachdem im jetzigen Zeitlauf die Kirche als zukünftige Braut und Miterbin gefunden wurde. Wenn sie Gottes Geist hätten, den Geist dessen, der die Herrlichkeit des Vaters aufgegeben und sich zu unserer Wesensart sogar bis in den Tod erniedrigt hat, um Mitarbeiter mit dem Vater zu sein. Dort geht es um das große, binnen kurzem vollendete Werk für die Zurückgewinnung derer, die verloren sind, worüber sich die „Brüder” des Herrn sehr freuen, denn sie wissen, daß dies zu ihrem Vorrecht als Glieder des Leibes Christi gehört, Helfer in dem gewaltigen Werk zu sein und die verlorenen Schafe zurückzubringen, sorgfältig auszufegen, die verlorene Drachme zu finden und den verlorenen Bruder ins Haus des Vaters gerne wieder aufzunehmen.

Es ist nicht unsere Sache, das Herz der Menschen zu beurteilen; das würde unsere Kraft übersteigen. Aber der Herr scheint die Wahrheit dergestalt zu gebrauchen, daß sie zum Unterscheidungsinstrument für die Gedanken und Beweggründe des Herzens wird, und daß sie, schärfer als jedes zweischneidige Schwert aufdeckt, trennt, offenbar macht, wer den Geist des Herrn hat, und wer ihn nicht hat. – vergleiche Hebräer 4:12 – „Wenn aber jemand Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein.” – Römer 8:9